Ob Forschung ohne Tierversuche auskommen kann, darüber diskutierten gut 50 Teilnehmende bei der „Unterhausdebatte“ am 5. November in der Hörsaalruine auf dem Campus der Charité in Berlin-Mitte. Mit von der Partie: Expertinnen und Experten aus Forschung, Pharmaindustrie, Verwaltung, Tierschutz und Ethik.
Zwei Schwertlängen Abstand: Im britischen Unterhaus trennt eine rote Linie auf dem Boden die politischen Lager. Sie soll verhindern, dass sich die Kontrahenten im Eifer des Wortgefechts an die Gurgel gehen. Obwohl die rote Linie fehlte, kam es auch bei der „Unterhausdebatte“ am 5. November auf dem Campus der Charité in Berlin-Mitte nicht zu Raufhändeln – und das, obgleich die Themenwahl denkbar kontrovers war. Das Für und Wider von Tierversuchen diskutierte das Moderationsduo Dr. Susann Schädlich und Dr. Michael Stang an diesem Abend mit einem sehr vielfältigen Publikum. Verschiedene Expertisen und Haltungen zu Versuchen mit Tieren waren breit vertreten. Das Ziel: Argumente und Meinungen auszutauschen – und die ein oder andere Fehlwahrnehmung zu korrigieren.
Den ersten Aufschlag machte Prof. Dr. Stefan Hippenstiel. Der Anblick großer Kaninchenaugen und schwanzwedelnder Beagle berühre jeden, so der Sprecher von Einstein Center 3R und Charité 3R in seinem Impulsvortrag. Forschende, die Tierversuche durchführen, erschienen vielen Menschen daher als denkbar unterkühlte Zeitgenossen: „Das sind die mit den Spritzen“. In Wahrheit jedoch ließen Experimente an Tieren gerade diejenigen nicht kalt, die sie durchführten und so ganz unmittelbar mit dem Widerspruch leben müssten. Häufig, so Hippenstiel, werde in der Öffentlichkeit nicht verstanden, dass einige Experimente nicht ohne Tiere auskommen könnten. „Ich wünsche mir, dass wir diese Komplexität und Schwierigkeiten akzeptieren und respektvoll miteinander diskutieren.“
Das Publikum positionierte sich an diesem Abend zu sechs Thesen. Abgestimmt wurde dabei mit den Füßen: Je nach Wahl des Sitzplatzes schlugen sich die Teilnehmenden dem „Ja“- oder dem „Nein“-Lager zu – und wurden im Anschluss gebeten, ihre Wahl zu begründen. Die erste Frage: Denken Sie, dass Tierversuche irgendwann überflüssig sind? Rund 60 % der Teilnehmenden stimmten mit „Ja“, unter anderem Dr. Tina Stibbe von der Tierschutzorganisation PETA. „Es ist das erklärte Ziel der EU, Tierversuche zu ersetzen, sobald das möglich ist. Es geht nicht von heute auf morgen, aber wir wünschen uns, dass es schneller geht. Ich glaube, dass es aktuell an der Ambition hapert.“
Sind vielleicht Organoide, also organähnliche Modelle in der Petrischale, die Lösung? „Ich bin zuversichtlich, dass das in den nächsten 100 Jahren klappen kann“, so ein Teilnehmer. Auch durch das Sammeln und Auswerten von Forschungsdaten und Weiterbildungen zu alternativen Methoden sei es gut möglich, dass Versuchstiere in absehbarer Zeit nicht mehr gebraucht würden. „Ich würde mir wünschen, dass Tierversuche überflüssig werden, aber ich glaube, dass Wachstum und ganze Organismen notwendig sind, um bestimmte Fragen zu beantworten“, hielt eine Teilnehmerin aus dem „Nein“-Lager entgegen. Eine andere Frau vermutete, dass Tierversuche insbesondere in der Impfstoffforschung wohl auch künftig nicht zu ersetzen sein würden.
Dass die Wissenschaft die Entwicklung von Alternativen zu Tierversuchen nicht ausreichend vorantreibt, glaubten rund 75 % der Diskutierenden. „Wenn wir Ressourcen in die Verbesserung von Tiermodellen stecken, diese Modelle aber eigentlich abschaffen wollen, dann ist das ein Widerspruch“, so Prof. Dr. Holger Gerhardt vom Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin. Es gelte, unterschiedlich qualifizierte Menschen zusammenzubringen, um alternative Methoden voranzutreiben. „Dass es nicht ausreichend vorangeht, hat viele Gründe“, kommentierte Prof. Dr. Gilbert Schönfelder. „Selbst in meiner Arbeit – ich leite das Deutsche Zentrum zum Schutz von Versuchstieren – stelle ich fest, dass einige noch an alten Modellen festhalten. Da ist deutlich Luft nach oben.“
Grundsätzlich könne man zu allem immer mehr machen, entgegnete ein Teilnehmer, der mit „Ja“ gestimmt hatte. „Im Vergleich zu anderen Gebieten wird hier aber schon viel gemacht. Ich halte es für eine Unterstellung, wenn gesagt wird, dass wir nicht bereit wären, Neues auszuprobieren.“ Auch Dr. Ute Hobbiesiefken vom Landesamt für Gesundheit und Soziales Berlin zeigte sich eher zufrieden mit den aktuellen Bemühungen, neue Forschungsmodelle zu etablieren, um auf Tierversuche verzichten zu können. „Ich arbeite in der Behörde, bei der man Tierversuche beantragt, und die Zahl der Neuanträge geht leicht zurück. Letztes Jahr, also 2023, wurden insgesamt nur 207 Projekte im Land Berlin eingereicht.“
Unentschiedenheit herrschte bei der Frage, ob die Menschheit dem Tierwohl zuliebe auf bestimmte medizinische Erkenntnisse verzichten sollte. Wer wolle schon beurteilen, was erforschenswert sei, fragte eine Besucherin. Aus tierrechtsethischer Perspektive, so Prof. Dr. Birgit Beck von der Technischen Universität Berlin, sei schon die Abwägung als solche problematisch. „Da steht das menschliche Interesse an wissenschaftlichem Fortschritt gegen das tierliche Interesse an Leib und Leben“, so die Ethikerin. „Manche würden sagen: Man darf empfindungsfähige Wesen mit einem Eigenwert überhaupt nicht für so etwas verwenden.“
„Es gibt bestimmte Fragestellungen, bei denen ich persönlich auf Fortschritt verzichten würde“, warf Dr. Marian Raschke vom Bayerkonzern ein. „Darüber hinaus gibt es zum Teil auch schon sehr gute alternative Modelle.“ Prof. Dr. Holger Gerhardt hielt dagegen, dass bestimmte Erkenntnisse schlicht nicht mit alternativen Modellen gewonnen werden könnten. Andere Teilnehmende beriefen sich auf die ethische Pflicht, Tiere vor menschlichem Erkenntniseifer zu schützen. Nicht immer werde der Nutzen wissenschaftlicher Experimente ausreichend geprüft. „Es gibt viel Grundlagenforschung, bei der wir nicht wissen, ob sie jemals relevant für den Menschen wird.“ Die gewonnenen Erkenntnisse stünden oft in keinem Verhältnis zum Leid der Tiere. Zuweilen jedoch gebe es dank Tierversuchen auch erhebliche Fortschritte, mit denen vorher niemand gerechnet hätte.
Sind die Regularien in Deutschland mit Blick auf Tierversuche ausreichend streng? Noch immer, so eine Teilnehmerin, werde „Neugierforschung“ betrieben und zu selten gefragt, ob das dadurch verursachte Tierleid gerechtfertigt sei. Prof. Dr. Hippenstiel gab zu bedenken, dass Erkenntnisse aus der Grundlagenforschung nicht selten von großem Nutzen seien. „Das Wort Neugierforschung entwertet das.“ Weitere Teilnehmende kritisierten komplizierte Genehmigungsverfahren und lange Wartezeiten, zeigten sich jedoch insgesamt mit den bestehenden Rahmenbedingungen zufrieden.
Rund ein Drittel der Besucherinnen und Besucher vertrat die Ansicht, dass Tierschutz die Forschung bremse. Dies sei jedoch aus einer ethischen Perspektive moralisch richtig und trage auch zu einer höheren Forschungsqualität bei. „Es ist ein Fakt, dass es Monate oder auch ein Jahr dauern kann, bis ein Antrag für einen Tierversuch genehmigt wird“, sagte eine Teilnehmerin. „Das ist aber gut so.“ Ein anderer Diskutant pflichtete ihr bei: „Tierschutz zieht Mittel aus der Forschung ab – zum Beispiel für größere Käfige. Und das ist auch richtig so.“ Für langwierige Genehmigungsverfahren, so ein Mann aus dem „Ja“-Lager, seien die Behörden dabei nicht allein verantwortlich. Tierversuche durchzuführen bedeute Verwaltungsaufwand. „Das liegt aber auch an der Qualität der eingereichten Anträge.“
Recht kontrovers diskutiert wurde die Frage, ob Pharmaforschung weniger Freiheit in Hinblick auf Tierversuche brauche als die Grundlagenforschung. „Ich denke, dass wir in der Grundlagenforschung bereits enorme Freiheit genießen“, warf ein Teilnehmer ein. „Nur weil ich mich in Rahmenbedingungen bewege, heißt das nicht, dass ich eingeschränkt bin.“ Aus ethischer Perspektive, so eine Teilnehmerin, sollten der Grundlagenforschung keine weiteren Freiheiten eingeräumt werden. Zudem müsse man stets auch den medizinischen Nutzen beurteilen. Gerade hieran störte sich ein anderer Teilnehmer: Ohne Forschungsfreiheit mache Grundlagenforschung gar keinen Sinn. Ihr Ziel sei es ja gerade, grundlegende Prozesse aufzuklären. Der medizinische Nutzen stehe hierbei zunächst nicht im Vordergrund.
Dass es der pharmazeutischen Forschung in Teilbereichen leichter fallen könnte als der Grundlagenforschung, Tierversuche zu reduzieren, da hier die standardisierte Prüfung auf Toxizität viel Raum einnimmt, diese Ansicht äußerte Prof. Dr. Hippenstiel. Die biomedizinische Forschung an etwa den Universitäten sei dagegen viel diverser. Dr. Marian Raschke ergänzte: „In der Breite jedoch sind absehbar Tierversuche auch in der Pharmaforschung nicht ersetzbar. Man hat bestimmte Annahmen, aber häufig brauchen wir den ganzen Organismus, um sie zu überprüfen.“
Welche Argumente konnten am Ende überzeugen? Als das Moderationsduo zum Abschluss erneut die Frage stellte, ob Tierversuche künftig ersetzt werden könnten, wechselte nur ein Besucher die Seiten. „Ich hatte am Anfang der Debatte für Ja gestimmt. Es könnte aber tatsächlich sein, dass wir doch nicht auf Tierversuche verzichten können.“ 60 % der Diskutierenden teilten diese Ansicht nicht: Sie blieben bei „Ja“.
Text: Nora Lessing