Mini-Lungen im Labor

Im Labor kultiviertes menschliches Lungengewebe hilft, Atemwegserkrankungen vom Asthma bis zur Lungenentzündung besser zu verstehen und neue Medikamente zu finden. Das Risiko neuer Krankheitserreger lässt sich zudem schneller einschätzen.

Wenn ein neues Virus wie das Corona-Exemplar, die Welt in Angst versetzt, stellen sich für Infektiologen zuvorderst folgende nüchterne Fragen: Wie dringt das Virus überhaupt in die menschlichen Zellen ein und was bewirkt es? Vermehrt es sich schnell, zerstört es das Gewebe? Nur, wer diese Fragen beantworten kann, hat eine Chance, systematisch nach Gegenmitteln zu suchen.

Die Immunologin Katja Hönzke von der Medizinischen Klinik mit Schwerpunkt Infektiologie und Pneumologie der Charité versucht, genau auf diese Fragen Antworten zu liefern. Dafür kultiviert sie Modelle des menschlichen Lungengewebes im Labor. Klein wie Punkte sehen diese sogenannten Organoide aus. Maximal 200 Mikrometer messen sie im Durchmesser. Die Lungenorganoide können Hönzke einen Einblick geben, wie ein Atemwegserreger die Lunge befällt und welche Folgen eine Infektion zeigt. Und weil solche Informationen bei neuen Erregern oder neuen Virusstämmen äußerst wertvoll sind, kooperiert auch das Robert-Koch-Institut mit ihrer Arbeitsgruppe: Das Bundesinstitut kann auch anhand ihrer Befunde das Infektionsgeschehen besser einschätzen.

Bisher gewannen Forschende diese wichtigen Erkenntnisse über Atemwegskrankheiten vorwiegend in Tierversuchen. Die meisten Erreger infizieren allerdings weder Maus noch Ratte, sodass Experten den Keim oder das Tier zunächst so modifizieren müssen, dass es überhaupt zu einer Infektion kommt. Dieser Umweg kostet Zeit und hat noch dazu den ethischen Nachteil von Tierexperimenten.

Hönzke arbeitet deshalb intensiv daran, die Lungenorganoide als alternatives Testsystem für Atemwegsleiden zu etablieren. Dafür möchte sie diese möglichst effektiv züchten und dem menschlichen Original, der Lunge, angleichen. Als Ausgangspunkt dient Spendergewebe von Lungenkrebspatienten aus verschiedenen Kliniken in Berlin. Über eine Organisation aus den USA bekommt die Forscherin zusätzlich hin und wieder gesundes Spendergewebe, das nicht für eine Transplantation geeignet ist. Aus den Gewebespenden isoliert Hönzke zunächst mit Spezialverfahren Vorläuferzellen, die verschiedene Lungengewebszellen bilden können. Aus diesen kann sie zwei Typen von Organoiden im Labor kultivieren: zum einen bronchiale Organoide, die die Bronchien mit ihrem Sekret und damit die oberen Atemwege simulieren, zum anderen alveoläre Organoide, die den Lungenbläschen, auch Alveolen genannt, in ihrer zellulären Zusammensetzung gleichen. Beide Organoide lassen sich unbegrenzt vermehren, auch einfrieren und wieder auftauen. „Das ist ein entscheidender Vorteil“, erklärt die Forscherin. 

Anhand der Organoide können Forschende Atemwegserkrankungen viel besser verstehen. Asthma, die chronisch obstruktive Lungenkrankheit COPD, Lungenentzündungen und auch Lungenkrebs sind verbreitete, mitunter tödliche Leiden, für die es noch immer keine ausreichenden Therapiemöglichkeiten gibt. An den Organoiden testet Hönzke derzeit auch neue und bestehende Medikamente gegen Infektionserreger wie die aktuell grassierenden Influenzavirenstämme. So weiß sie in kurzer Zeit, welche Arzneien anschlagen könnten. Auch Wirkstoffe, die sich in der Entwicklung befinden, untersucht sie auf ihr Potenzial hin. Die Ergebnisse der Versuche an den Lungenorganoiden erwiesen sich dabei bisher als verlässlich und ähnlich aussagekräftig wie die an frischem, menschlichem Lungengewebe, das als Referenz dient.
Genauestens kann die Forscherin zudem an den Organoiden beobachten, wie ein Keim die Atemwege und Lunge befällt. SARS-CoV-2 etwa nutzt hauptsächlich den ACE2-Rezeptor als zellulären Eintrittsweg. Erst als Hönzke ihre Organoide gentechnisch so veränderte, dass sie diesen Rezeptor in großer Zahl auf der Zelloberfläche ausbildeten, vermehrte sich das Virus im Lungenmodell. So konnte die Forschergruppe die direkte Abhängigkeit des Virus von seinem Rezeptor zeigen sowie andere, alternative Rezeptoren ausschließen. In dem Projekt wurde gezeigt, dass der COVID-19 Erreger nur in sehr begrenztem Maß in der Lage ist, die Zellen der menschlichen Lungenbläschen direkt zu infizieren. Hingegen wird der überwiegende Teil der in die Lunge gelangten Viren von Zellen der angeborenen Immunität, den Alveolar-Makrophagen, direkt aufgenommen und löst in diesen eine gezielte Immunaktivierung aus. „Das Zusammenspiel zwischen der Lunge und dem Immunsystem ist sehr wichtig“, sagt Hönzke. „Es erklärt zum Beispiel auch eine besonders schwere Form der Lungenentzündung: wenn Menschen nach einer Virusinfektion zusätzlich eine bakterielle Infektion bekommen. Die Immunantwort auf eine Virusinfektion verhindert die Bekämpfung einer zeitgleichen Infektion mit Bakterien. In der Folge erlangen die Bakterien einen Vorteil, vermehren sich in der Lunge und schädigen das Gewebe.

Um die Antwort des Immunsystems zu berücksichtigen, hat Hönzke damit begonnen, ihre Organoide mit Makrophagen zu durchsetzen. Ihr geht es darum, die faszinierende Komplexität der menschlichen Lunge genauer abzubilden. Das Atemwegsorgan mit seinen Lappen ist anatomisch und auch funktionell sehr komplex aufgebaut. „Wir wissen einfach noch nicht, welche Substanzen dazu beitragen, dass sich eine Stammzelle in die verschiedenen lungenspezifischen Zellen entwickelt. Wir verstehen die Reifung der Lunge noch nicht richtig. Unsere Organoide sind momentan in ihrer zellulären Zusammensetzung und Struktur recht einfach aufgebaut“, erklärt Hönzke.

Man könnte hoffen, dass aus den winzigen Mini-Lungen eines Tages vielleicht tellergroße Lungenflügel werden, die transplantiert werden können. Dann bräuchte man keine Spenderlungen mehr. Diese Vision sieht Hönzke allerdings in sehr weiter Ferne. „Gezüchtete Gewebe haben auch immer Nachteile. Unser Ziel ist das im Moment definitiv nicht.“ Für sie ist schon viel erreicht, wenn die Organoide mehr verraten als eine Maus im Tierexperiment und diese dafür nicht mehr sterben muss.

Text: Susanne Donner, Dezember 2022.