Neuromuskuläre Organoide - schneller bitte!

An neuromuskulären Organoiden können Forschende die Mechanismen schwerwiegender neuromuskulärer Erkrankungen untersuchen und Medikamente testen. Das Team von Dr. Mina Gouti am Max Delbrück Center hat die dreidimensionalen Gewebemodelle aus humanen Stammzellen entwickelt. Nun wollen die Wissenschaftler:innen herausfinden, wie sie die Reifung der Organoide beschleunigen können. 

Wie gelingt es dem großen Zeh einer Ballerina, ihren gesamten Körper auf seiner Spitze zu balancieren? Oder was versetzt die Speiseröhre in die wellenförmigen Bewegungen, mit denen sie die Nahrung aus dem Mund in den Magen befördert? Die Impulse dafür entstehen im Gehirn. Dass sie bei den Muskeln ankommen und dort in Bewegungen übersetzt werden, ist den Motoneuronen zu verdanken, die permanent Signale vom Denkorgan in sämtliche Regionen des Körpers übermitteln.

Doch bei neuromuskulären Erkrankungen wie der Amyotrophen Lateralsklerose (ALS) oder der Spinalen Muskelatrophie (SMA) sterben die Motoneuronen ab, und der Signalfluss gerät ins Stocken. Die Folgen können Muskelschwäche oder -schwund, Bewegungsstörungen und Schwierigkeiten beim Sprechen, Schlucken oder Atmen sein. Beide Krankheiten können bislang nicht geheilt werden. Bisherige Therapien zielen auf eine Linderung der Symptome und einen langsameren Krankheitsverlauf.

Die neuromuskuläre Verbindung in der Petrischale

Weltweit suchen Forschende nach neuen Behandlungsansätzen. Um die Krankheitsmechanismen von ALS und SMA zu untersuchen, greifen sie oft auf genetisch veränderte Mäuse zurück. Die Tiere tragen eine Mutation, die gleiche oder ähnliche Krankheitsmerkmale wie bei den menschlichen Formen von ALS oder SMA hervorrufen kann. Auch potenzielle Behandlungen entwickeln und testen die Forschenden am Tiermodell. Allerdings können sie die Ergebnisse aus Tierversuchen nicht 1:1 auf den Menschen übertragen. Ein Mensch ist nun einmal keine Maus.

„Um neue Erkenntnisse über die komplexen Mechanismen dieser schwerwiegenden Erkrankungen zu gewinnen, benötigen wir komplexe humane Modelle“, sagt Dr. Mina Gouti. Sie leitet am Max Delbrück Center die Arbeitsgruppe „Stammzell-Modellierung der Entwicklung und Erkrankung“. Mit ihrem Team hat sie neuromuskuläre Organoide entwickelt, winzige dreidimensionale Gewebekulturen, die das Zusammenspiel von Nerven- und Muskelzellen in der Petrischale nachvollziehbar machen. Dafür hat sie humane Stammzellen mit einem Mix aus Nährstoffen und Wachstumsfaktoren dazu gebracht, in die verschiedenen Motoneuronen und Skelettmuskelzellen des neuromuskulären Systems zu differenzieren. Ihre Organoide sind die ersten weltweit, in denen zwei Gewebetypen – Nerven- und Muskelfasern – aus denselben Vorläuferzellen hervorgehen. Wie im menschlichen Körper sind die Motoneuronen und Muskelzellen über Synapsen miteinander verbunden, und die Motoneuronen bringen die Muskelzellen dazu, sich zusammenzuziehen und zu entspannen. Unter dem Mikroskop sind diese Kontraktionen sogar sichtbar: Das bohnenförmige Organoid pulsiert wie eine kleine Qualle. „An diesem Modell können wir nachvollziehen, welcher Zelltyp im Lauf einer Erkrankung zuerst Schaden nimmt“, sagt Mina Gouti. „Es hilft uns auch zu verstehen, warum bestimmte Typen von Motoneuronen betroffen sind, andere wiederum nicht.“

Auf dem Weg zur personalisierten Medizin

Goutis Team will mithilfe der neuromuskulären Organoide nicht nur die Todesursache der Motoneuronen bestimmen. Die Forschenden wollen die Modelle auch für Medikamententests nutzen. Der Vorteil gegenüber Tierversuchen liegt auf der Hand: Die Organoide bestehen aus menschlichem Gewebe, sind Patient*innen also wesentlich ähnlicher als ein Versuchstier. Zudem können sie die Zahl der Versuchstiere reduzieren, weil sie bereits in der Petrischale zeigen, wie Substanzen wirken. Ein weiterer Pluspunkt ist, dass Organoide aus patienteneigenen Stammzellen hergestellt werden können. Damit ebnen sie den Weg zu einer personalisierten Medizin, bei der ein*e Patient*in genau die Medikamente bekommt, die zuvor am patientenindividuellen Modell den gewünschten Effekt gebracht haben.

Bis es so weit ist, muss die Gruppe noch einige Hürden nehmen. „Wir müssen die Komplexität unserer Organoidmodelle erhöhen, um einen reiferen Gewebeentwicklungsstatus zu erfassen, der dem von Erwachsenen ähnlicher ist“, sagt Dr. Chrysanthi-Maria Moysidou, Postdoktorantin im Labor von Mina Gouti. Die Gruppe verwendet humane pluripotente Stammzellen, um ihre Organoidmodelle zu generieren. Die Stammzellen durchlaufen in der Petrischale eine Entwicklung wie im Embryo. Die auf diese Weise generierten neuromuskulären Organoide wachsen und reifen im Laufe der Zeit heran und zeigen die gewünschte Funktionalität, einschließlich kontraktiler Muskelbewegungen. Tatsächlich können diese Organoide problemlos über mehrere Monate hinweg aufrechterhalten werden, erreichen jedoch, ähnlich wie andere Organoidmodelle, nicht das Reifungsstadium erwachsener Gewebe. "Mein Ziel ist es, Organoide zu entwickeln, die relevanter und spezifischer für menschliche Gewebe im Erwachsenenalter sind, um Störungen, die im Erwachsenenalter auftreten, wie beispielsweise ALS, besser zu modellieren", sagt Chrysanthi-Maria Moysidou.

Organoide treffen auf Bioelektronik

Dies ist eine der größten Herausforderungen in der Organoidforschung. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler versuchen, die Komplexität und Reife der Organoiden zu verbessern und zu beschleunigen, etwa durch den Einsatz von Optogenetik – dabei werden Gene so verändert, dass Zellen auf Licht reagieren können – oder pharmakologischen Substanzen. Die Biotechnologin Moysidou wählt einen anderen Ansatz: den der organischen Bioelektronik. Sie verbindet die neuromuskulären Organoiden mit flexiblen Multielektrodenarrays, die Wissenschaftler der Universität Cambridge maßgeschneidert aus organischen Polymeren herstellen. Multielektrodenarrays verfügen über zahlreiche winzige Elektroden, die sich an die Form und Größe der Organoiden anpassen. Dadurch kann sie einerseits die neuronale Aktivität der Organoide aufzeichnen und andererseits das Gewebe elektrisch stimulieren. "Auf diese Weise gewinnen wir tiefe Einblicke in den Reifegrad der Organoide", erklärt Chrysanthi-Maria Moysidou. "Ich kann verstehen, wie Muster neuronaler Aktivität entstehen, während sich die Neuronen und Muskelzellen organisieren, und vor allem, wie sich das Gewebe im Laufe der Zeit verändert und reift, bis es kontrahiert." Als nächstes möchte sie in diese Prozesse eingreifen, um die Reifung des Gewebemodells zu verbessern und zu beschleunigen. Wenn dies gelingt, wäre die Organoidforschung einen großen Schritt weiter.

Text: Jana Ehrhardt-Joswig, Dezember 2023