Was künstliche Minimägen und Minidärme verraten

Durch Organoide des Verdauungstraktes können Forschende um den Gastroenterologen Prof. Dr. Michael Sigal Infektionskrankheiten genauer verstehen. Ihnen wird immer klarer, warum auf manchen Keim nach Jahrzehnten Krebs folgt.

Wenn das Laborteam von Michael Sigal wieder eine Gewebeprobe aus der Klinik bekommt, heißt es schnell sein. Denn die kleinen Gewebestückchen aus der Magen- oder Darmwand, die Sigal und seine ärztlichen Kolleginnen und Kollegen bei endoskopischen Untersuchungen routinemäßig entnehmen, sind für die Forschung an der Medizinischen Klinik mit Schwerpunkt Hepatologie und Gastroenterologie eine wertvolle Ressource. „Die werden bei uns liebevoll behandelt, damit die Zellen überleben“, sagt Sigal.

Seine Mitarbeitenden trennen zunächst die Stammzellen aus dem Gewebeverband ab. Aus diesen Stammzellen entstehen im Verdauungstrakt fortlaufend frische Zellen; sie liefern gewissermaßen fortlaufend Nachschub. Alle ein bis zwei Wochen bekommen Magen und Darm auf diese Weise eine frische Auskleidung.

Dieser Prozess lässt sich auch im Labor nachahmen: Dafür gibt Sigals Team einen speziellen Cocktail an Wachstumsfaktoren zu den isolierten Stammzellen. Nach einigen Tagen entwickeln sich diese zu Magen- beziehungsweise Darmepithelzellen. Das sind genau jene Zellen, die den Verdauungstrakt innen auskleiden. Mit einer speziellen, in Nature Communications veröffentlichten Methode bringt Sigals Team die gezüchteten Epithel-Organoide anschließend mit den sogenannten Stromazellen zusammen, die das Epithel im Darm umgeben. „Diese beiden Zelltypen bilden dann von selbst Strukturen, die fast so aussehen wie der Querschnitt durch Darm oder Magen. Das ist beeindruckend“, findet Sigal. Das Gewebe-Duo aus Stromazellen und Epithelzellen wächst nicht einfach plan in den Kulturschalen. „Die Zellen zeigen eine dreidimensionale Struktur, die sogenannten Krypten, wie wir sie im Magen und im Darm finden“, beschreibt Sigal. Ein Bild in seinem Büro zeigt die Krypten. Sie erinnern an emporragende, dicht nebeneinanderstehende Stalagmiten. Die Krypten werden von bindegewebigen Stromazellen umgeben. Wenn Stromazellen und Epithelzellen zusammenkommen, ordnen sie sich unter bestimmten Bedingungen selbst zu Krypten an. „Sogar die Wachstumsfaktoren liefern die beiden Zelltypen sich teils gegenseitig, sodass wir weniger Arbeit haben“, freut sich Sigal.

Einige Millimeter groß sind die Magen- und Darmorganoide, die er bisher aus den Stammzellen der Gewebeproben züchten konnte. An diesen Minisystemen kann er viel lernen. Immer noch ein Problem für Patienten und Patientinnen sind etwa Infektionen mit dem Magenkeim Helicobacter pylori. Die meisten infizierten Menschen entwickeln lediglich eine milde Schleimhautentzündung, einige entwickeln aber Geschwüre. Und etwa einer von hundert bekommt über Jahrzehnte schließlich schwer behandelbaren Magenkrebs. Die Infektion gilt als wichtigster Risikofaktor für Entstehung von Magenkrebs. Die Frage, die Forschende und auch Sigal umtreibt, ist deshalb, unter welchen Bedingungen das Bakterium gefährlich wird.

„Wir können unsere Organoide mit Helicobacter pylori infizieren und beobachten, welche Effekte die Infektion hat.“ Lange Zeit glaubten Forschende, der Keim würde sich nur oberflächlich auf der Magenschleimhaut vermehren. Doch ein kleiner Teil der Bakterienpopulation dringt bis in die Stammzellen am Grund der Krypten vor. Dort sind die Bakterien wahrscheinlich in der Lage, die Stammzellen genetisch zu verändern. Neben möglichen Schädigungen der DNA wird auch die Zellteilung angekurbelt. Aus den Stammzellen entsteht schneller neues Gewebe. „Dass die Regeneration beschleunigt wird, ist gut, wenn wir eine Wunde haben. Aber diese schnellere Gewebeneubildung über einen langen Zeitraum kann auch Krebs begünstigen“, schildert Sigal den gegenwärtigen Stand des Wissens.

Mit seinen Magenorganoiden kann er nun genauer nachschauen, was der Magenkeim im Genom und in den Stammzellen anrichtet. Sigals Team kann auch Helicobacter pylori verändern, um zu verstehen, welche Merkmale den Keim so gefährlich machen. Er kann auch die Wirkung einzelner Entzündungsstoffe auf die Organoide untersuchen, die im Magen bei einer Infektion mit Helicobacter pylori entstehen.

Ein ähnlich folgenreicher Erreger interessiert Sigal auch im Darm. Dort können bestimmte Kolibakterien und Klebsiellen ein Gift produzieren, das Colibactin heißt. Etwa zwanzig bis dreißig Prozent der Bevölkerung haben entsprechende mikrobielle Siedler im Darm, die das Toxin produzieren. Colibactin könnte noch schädlicher sein für das Erbgut der Stammzellen, wenn es mit ihm in Kontakt kommt, als Helicobacter pylori, so Sigal. Der Doppelstrang der DNA bricht direkt und in einer Art und Weise, wie Pathologen und Pathologinnen es in Krebszellen von einigen Personen mit Darmkrebs finden. „Wenn wir Colibactin produzierende Bakterien zu unseren Darmorganoiden geben, bekommen sie Eigenschaften von Krebszellen – eine Art Minikrebs entsteht“, beschreibt Sigal und fügt hinzu. „Niemand muss deshalb panisch werden. Wir wissen ja, dass nicht 30 Prozent der Bevölkerung Darmkrebs bekommt. Offenbar gibt es also auch Schutzfaktoren gegen eine Schädigung durch Colibactin.“

Die Darmschleimhaut ist beispielsweise für viele Substanzen und Bakterien nahezu undurchlässig, damit nur wichtige Nährstoffe ins Blut übergehen. Eine gesunde, ausgewogene Ernährung mit viel Vollkornprodukten hält diese Barriere eher intakt. Nach solchen Schutzmöglichkeiten, etwa auch der Rolle des Mikrobioms, sucht Sigal nun in seinen Organoiden.

Text: Susanne Donner, März 2023.