Künstliches Herzgewebe für Funktionsdiagnostik, Medikamententests und Therapie

Erkrankungen des Herzens in der Petrischale nachzubilden, ist das Ziel des EC3R Projekts „Engineering von menschlichem Herzgewebe für Funktionsdiagnostik, Medikamententests und Therapie“. Unter der Leitung von Prof. Michael Gotthardt und Dr. Sebastian Diecke entwickelt das Forschungsteam künstliches Herzgewebe, um Krankheitsmechanismen zu durchleuchten, Medikamente zu testen und die Anzahl von Tierversuchen gemäß des 3R-Prinzips zu verringern.

Nach wie vor sind Herz-Kreislauf-Erkrankungen weltweit die Todesursache Nummer eins. Ein Großteil der Erkrankten ist von einer Herzschwäche mit erhaltener Pumpfunktion betroffen (Heart Failure with preserved Ejection Fraction, HFpEF). Dabei ist nicht die Pumpkraft des Herzens beeinträchtigt, sondern seine Dehnbarkeit. Deshalb kann der Herzmuskel nicht genug Blut aufnehmen, um den Körper ausreichend mit Sauerstoff und Nährstoffen zu versorgen. Die Betroffenen sind körperlich weniger belastbar, lagern Wasser in der Lunge und im übrigen Körper ein, werden kurzatmig. Medikamente, die die Beschwerden lindern könnten, gibt es kaum.

Professor Michael Gotthardt will das ändern. Mit seiner Forschungsgruppe „Translationale Kardiologie und funktionelle Genomforschung“ sucht er am Max Delbrück Center nach neuen Medikamenten, mit denen Herz-Kreislauf-Erkrankungen besser behandelt werden können. Die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen arbeiten unter anderem mit künstlichem Herzgewebe (Engineered Heart Tissue, EHT). Im Projekt „Engineering von menschlichem Herzgewebe für Funktionsdiagnostik, Medikamententests und Therapie“ des Einstein Center 3R wollen sie diese Technologie weiterentwickeln und für Forschende weltweit verfügbar machen. Prof. Gotthardts Partner Dr. Sebastian Diecke ist Leiter der Technologieplattform „Pluripotente Stammzellen“ des Max Delbrück Center.

Die Herzmuskelzellen, auch Kardiomyozyten genannt, entstehen im Labor. Dafür programmiert Dr. Sebastian Diecke Körperzellen, etwa aus Blut- oder Gewebeproben, zu entwicklungsfähigen Stammzellen um. Die induzierten pluripotenten Stammzellen (iPS-Zellen) können dann jede Zelle des menschlichen Körpers hervorbringen – beispielsweise Leberzellen, Neuronen, Darmzellen oder eben Kardiomyozyten. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler fügen die einzelnen Herzmuskelzellen zu einer rosaschimmernden, dreidimensionalen Gewebestruktur zusammen. „Das künstliche Herzgewebe spiegelt den Verbund der Kardiomyozyten im Herzmuskel und ihre Kommunikation wider“, erläutert Prof. Michael Gotthardt. „So bildet das EHT wesentliche Aspekte verschiedener Herz-Kreislauferkrankungen in der Petrischale ab.“

Die Forschenden untersuchen das elastische Verhalten des künstlichen Herzgewebes, indem sie es mit kleinen Plastikstäbchen verbinden. Das EHT zieht sich abwechselnd zusammen und entspannt sich wieder – ganz so wie Herzmuskelzellen in ihrer natürlichen Umgebung. Die Plastikstäbchen bewegen sich im Takt der Muskelzellen, der aufgezeichnet und vom Computer ausgewertet wird. Die gemessenen aktiven und passiven Kräfte ermöglichen Rückschlüsse auf die Pumpleistung des Herzens im menschlichen Organismus. „Wir wollen verstehen, wie das Herz es schafft, auf Umwelteinflüsse zu reagieren und seine elastischen Eigenschaften so einzustellen, dass es optimal arbeiten kann“, sagt Prof. Michael Gotthardt. Außerdem können die Forschenden EHTs zur Wirkstoffentwicklung nutzen, um Stoffwechsel und Pumpfunktion des Herzens zu verbessern.

Damit sich die Herzmuskelzellen an unterschiedliche Belastungssituationen des Herzens anpassen können, wenden sie einen Trick an: das alternative Spleißen, mit dem Zellen auf der Basis eines einzigen Gens eine Vielfalt ähnlicher Proteine bilden. So entstehen in den Muskelzellen unterschiedliche Varianten (Isoformen) des größten Proteins im menschlichen Körper, des Titins. Dieses Riesenprotein ist neben Aktin und Myosin ein Baustein des Sarkomers, der kleinsten mechanischen Einheit der Muskelzelle. Es ist elastisch und beeinflusst damit ganz wesentlich die mechanischen Eigenschaften der Kardiomyozyten.

„Wir wollen entschlüsseln, wie alternatives Spleißen reguliert wird, um zu verstehen, wie eine Herzschwäche mit erhaltener Pumpfunktion entsteht“, sagt Gotthardt. Im vergangenen Jahr hat er dafür einen Advanced Grant des Europäischen Forschungsrats in Höhe von 2,5 Millionen Euro erhalten. Bei HFpEF sind die Wände der Herzkammern versteift, so dass sie sich nicht mehr ausreichend füllen können. Könnte man am richtigen Punkt medikamentös in den Prozess eingreifen, der die Produktion leicht dehnbarer Titine reguliert, ließen sich die Füllungseigenschaften eines kranken Herzmuskels verbessern, damit er wieder effektiver arbeiten kann.

Künstliches Herzgewebe hat mehrere entscheidende Vorteile. „Aus einer einzigen Probe können wir nahezu beliebig viele und genetisch identische EHTs erzeugen, sodass wir wesentlich mehr Experimente und vergleichende Untersuchungen durchführen können“, sagt Gotthardt. „Außerdem ebnet es den Weg zu einer personalisierten Medizin“, fügt Pragati Nalinkumar Parakkat, Doktorandin in Gotthardts Team, hinzu. „Dank der EHTs können wir patientenspezifisches Herzgewebe untersuchen. Das war lange Zeit nicht möglich, da der Zugang zu menschlichem Herzgewebe stark begrenzt ist.“ Die iPS-Zelltechnologie in Verbindung mit dem Engineering des Herzgewebes ermöglicht es nun, das Herzgewebe eines jeden Menschen nachzuzüchten. So könnte getestet werden, welches Medikament bei welchem Patienten oder welcher Patientin wirkt – „denn Medikamente funktionieren nicht bei allen gleich gut“, sagt Pragati Nalinkumar Parakkat. 

Künstliches Herzgewebe trägt außerdem dazu bei, die Anzahl von Tierversuchen zu reduzieren. „EHTs eignen sich sehr gut als Krankheitsmodell, wenn es darum geht zu testen, was Arzneimittel in menschlichen Herzmuskelzellen bewirken“, erklärt die Wissenschaftlerin, „denn Proteine, die von Mäusezellen exprimiert werden, unterscheiden sich von denen, die menschliche Zellen bilden.“ Um die Auswirkungen im gesamten Organismus zu untersuchen, müssen Forschende allerdings nach wie vor auf Tiermodelle zurückgreifen – denn nur so können sie das komplexe Zusammenspiel aller Körperzellen durchdringen. „Aber die Experimente mit künstlichem Herzgewebe versetzen uns in die Lage, bessere Tierversuche zu machen “, sagt Prof. Michael Gotthardt. „Denn sie liefern uns Informationen, die es uns ermöglichen, gezielter nach dem zu suchen, was wir wissen müssen, um bessere Therapien zu entwickeln.“

Text: Jana Ehrhardt-Joswig, Mai 2023.