Vertrauen ist der Schlüssel

Die Faszination, die von Organoiden ausgeht, ist groß – nicht zuletzt, weil sie oft eine Alternative zu Tierversuchen darstellen. Bislang fehlt es jedoch an einheitlichen Qualitätsstandards für die Organmodelle.

Winzige Gewitterwolken, die stecknadelkopfgroß in einer Petrischale schwimmen – so sehen die meisten Organoide aus, aus Stammzellen gewachsene, dreidimensionale Gewebemodelle. Stammzellen sind Zellen, die noch nicht oder kaum differenziert sind. Sie können sich in jedweden Zelltyp entwickeln, etwa in Herz- oder Nierenzellen, Muskelzellen oder Neuronen. Forscher:innen untersuchen an Organoiden, wie sich Organe entwickeln, Krankheiten entstehen und fortschreiten oder wie Medikamente wirken. Da die Mini-Organe aus menschlichen Zellen hergestellt werden können, kommen sie in manchen Aspekten menschlichen Organen dabei weitaus näher als Tiermodelle.

Die Forschung an Organoiden birgt ein enormes Potenzial, bestimmte Tierversuche zu reduzieren oder zu ersetzen. Am Einstein-Zentrum 3R (EC3R) forschen mehrere Gruppen an 3D-Gewebekulturmodellen, etwa an Hirn-, Darm- und Lungenorganoiden oder künstlichem Herzgewebe. Die Qualität der Modellforschung zu verbessern, ist Ziel des Querschnittprojekts „6R –Robustheit, Registrierung, Reporting von 3R-Projekten“ von Prof. Dr. Ulrich Dirnagl, Dr. Ulf Tölch und Prof. Dr. Daniel Strech vom QUEST Center des Berlin Institute of Health (BIH) in der Charité – Universitätsmedizin Berlin. Es hat sich auf die Fahnen geschrieben, die biomedizinische Forschung vertrauenswürdiger, nützlicher und ethisch verantwortungsvoller machen.

„Vertrauen ist der Schlüssel“, sagt Dr. Maren Hülsemann, wissenschaftliche Mitarbeiterin in diesem EC3R Querschnittsprojekt am QUEST Center. Dieses Vertrauen sei eng an die Robustheit der Experimente geknüpft. „Damit klassische in vivo-Forschende überhaupt in Erwägung ziehen, ihre Tiermodelle durch Organmodelle zu ersetzen, müssen wir sicherstellen, dass die Modelle robust sind.“ Heißt: Sowohl die Ergebnisse aus der Forschung mit Organoiden müssen reproduzierbar sein als auch die Organmodelle selbst. Das ist jedoch längst nicht immer der Fall: „Wenn ein Modell in einem Labor funktioniert, heißt das nicht, dass das im nächsten Labor genauso ist“, sagt Hülsemann. Das liege unter anderem daran, dass es für die in vitro-Forschung noch keine einheitlichen Qualitätsstandards und damit keine klaren Vorgaben gibt, welche Informationen Studienprotokolle überhaupt liefern müssen. „Eine Studie ist dann robust, wenn die Forschenden genau dokumentieren, wie die Experimente aufgebaut sind, welche Fragestellung sie verfolgen und ob sie die Organmodelle aus Stammzellen, Zelllinien oder Gewebeproben von Patient:innen gezüchtet haben“, erläutert die Wissenschaftlerin.

Lückenloser Wissenstransfer ist also das A und O. Um innerhalb des EC3R zu gewährleisten, dass alle Labore Zugriff auf das Wissen der anderen Gruppen haben, wird angestrebt, die Studienprotokolle über eine Forschungsdatenplattform zu teilen. Will etwa ein Labor ein Organmodell nachbilden, das Kolleg:innen entwickelt haben, hat es über die Plattform Zugriff auf deren Protokolle. So kann es alle Bedingungen schaffen, die das Organoid benötigt, um sich zu entwickeln. „In manchen Fällen ist es auch erforderlich, dass ein:e Wissenschaftler:in für drei Wochen im anderen Labor mitarbeitet, um sich das Knowhow anzueignen“, erzählt Hülsemann. „Nicht alles kann auf Papier festgehalten werden.“

Über die Plattform können Forschende ihr Wissen nicht nur innerhalb ihrer eigenen Institution teilen, sondern mit Kolleg:innen auf der ganzen Welt. Auch die Teams um Dr. Mirjana Kessler von der Ludwig-Maximilian-Universität München (LMU) und Dr. Katja Hönzke von der Charité haben ihre Protokolle dort veröffentlicht. Sie arbeiten am EC3R an Lungenmodellen und konnten unter anderem zeigen, wie Lungenorganoide mit dem Coronavirus infiziert werden können. „Indem sie ihre Methoden detailliert dokumentiert haben, ermöglichen sie es anderen Laboren, im Falle einer weiteren Pandemie die Lungenmodelle nachzubauen und mit anderen Krankheitserregern zu infizieren“, erläutert Hülsemann. Im Fachmagazin „Plos One“ wurde eine Zusammenstellung dieser Protokolle veröffentlicht. „Der Vorteil: Die Publikation verweist auf Protokolle, die fortlaufend aktualisiert werden“, sagt Hülsemann. „Sie sind also immer auf dem neuesten Stand.“ 

Derzeit erstellt die 6R-Gruppe eine Übersichtsarbeit über den Einsatz von Organoiden in der Covid-19-Forschung. Dafür analysieren die Forschenden mehr als 300 Studien. Sie interessieren sich zum einen dafür, welche Organmodelle zum Einsatz gekommen sind, auf welchem Weg das Coronavirus die Organoid-Zellen geentert und wie es sich in ihnen vermehrt hat. Zum anderen wollen sie prüfen, wie robust die Studien sind, also wie gut die Autor:innen ihre Methoden und Experimente dokumentiert haben, und ob andere Wissenschaftler:innen die Ergebnisse reproduzieren können.

Eine weitere Übersichtsarbeit ist für das Projekt „3D-Bioprinting von humanen Organmodellen“ von Prof. Jens Kurreck und Dr. Johanna Berg von der Technischen Universität Berlin sowie von Prof. Dr. Albert Braeuning vom Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) in Arbeit. Die Wissenschaftler:innen wollen wissen, wo die Forschung an Lebermodellen steht: Welche Technologien stehen für das 3D-Bioprinting von Lebermodellen zur Verfügung, welche Arten von „Bio-Tinte“ kommen dabei zum Einsatz und welche Fragestellungen werden mithilfe dieser Lebermodelle beantwortet? „Zurzeit gibt es dazu einen ganzen Wust an Literatur. Auch absolute Expert:innen können da den Überblick verlieren“, meint Hülsemann.

Einen Überblick schaffen, für Klarheit und Sicherheit sorgen – darum geht es im Projekt 6R. „Es existieren momentan keine verbindlichen Regeln“, sagt Maren Hülsemann. „Das fängt schon bei der Nomenklatur an. Organoid, Organmodell, 3D-Gewebemodell – alles ist möglich. Hier einheitlich zu werden, wäre ein erster Schritt hin zu mehr Qualität.“

Text: Jana Ehrhardt-Joswig, Januar 2023.